"Berlin, Berlin" - Buch 1 - Leseprobe
Auf der Flucht
"Okay, jetzt bin ich enttäuscht."
Vor Lolle auf dem Küchentisch lag ein Wust von Paket-, Zeitungs- und Geschenkpapier und in der Hand hielt sie
einen ziemlich hässlichen, quietschrosa Dreiecksschal mit langen Zottelfransen.
Das Geburtstagsgeschenk von ihrer Freundin Taddi aus Malente, das der Postbote soeben gebracht hatte.
Lolle hatte so darauf gehofft, dass dieses Päckchen in Bezug auf ihren bislang völlig schief gelaufenen
Geburtstag doch noch ein Highlight setzen würde ... hatte sich selbst dazu ermahnt, die Verpackung ganz langsam
zu öffnen, um die Spannung zu erhöhen ... und dann, nachdem sie es nicht mehr ausgehalten und wie eine Wilde das
Papier zerfetzt hatte, um den Inhalt zu enthüllen ... war anstatt der supertollen Mütze, von der sie Taddi die
ganze Zeit vorgeschwärmt hatte, dieses abscheuliche Teil zum Vorschein gekommen.
"Mann, sieht der Scheiße aus!"
Entsetzt über die Geschmacksverirrung ihrer Freundin hielt Lolle den Schal ungläubig in den Händen.
"Mann, sieht der Scheiße aus!"
Rosalie sah über Lolles Schulter hinweg auf den rosa Fummel.
"Tut er nicht!" verteidigte Lolle ihr Präsent aus Prinzip.
"Bist du blind?" Rosalie mimte die Besorgte.
"Der ist von meiner Freundin Taddi!"
"Dann ist die blind."
Mit ihrer Kaffeetasse ausgerüstet wollte Rosalie die Küche schleunigst wieder verlassen.
Ein Ort des Grauens - mit einer Lolle, die sich ihrem grenzenlosen Selbstmitleid erbarmungslos hingab, und dazu
diesem grottenscheußlichen Schal, den sie jetzt auch noch demonstrativ um ihren Hals gewickelt hatte.
"Sie hat wenigstens an meinen Geburtstag gedacht", wies Lolle Rosalie beleidigt auf ihre Vergesslichkeit hin.
Doch Rosalie hatte keinen Bock auf Gewissensbisse und wehrte den Vorwurf im Hinausgehen zynisch ab.
"Hat sie sich zur Erinnerung einen Knoten in den Kuhschwanz gemacht, oder was?"
"Das geht mir so auf den Geist!" Lolle schoss unvermittelt von ihrem Stuhl auf, fegte das Papier vom Tisch und
brüllte Rosalie an.
"Was?" Überrascht von diesem Temperamentsausbruch wandte sich Rosalie zu Lolle um. "Dass du solche
Tunten-Attacken geschenkt bekommst?"
"Nein, dass du die ganze Zeit nur motzen und stänkern kannst."
Rosalie schüttelte gelangweilt den Kopf.
"Du hingegen machst einen richtig fröhlichen Eindruck."
"Weil keiner von euch an meinen Geburtstag gedacht hat",
jammerte Lolle und hoffte auf Rosalies Mitgefühl. Aber weit gefehlt! "Reicht ja schon, wenn du so viel daran
denkst", erwiderte Rosalie verständnislos und marschierte in ihr Zimmer. Niedergeschlagen blieb Lolle zurück.
Was für ein Misttag!
Dabei hatte sie geglaubt, es würde der schönste Geburtstag aller Zeiten werden.
Die Sonne schien, es war warm und ihre Mutter war 500 Kilometer weit weg. Und das Beste war: Lolle war in Berlin!
Sie mochte die Häuser, die Atmosphäre, die Menschen ... und nun musste sie feststellen, dass die meisten davon
für sie nur wenig übrig hatten. Und schon gar keine Zeit.
Lolle hatte extra eine Geburtstagstorte bestellt, um mit Rosalie und Sven zu feiern.
Aber schon in der Konditorei war es losgegangen. Erst hatte die Verkäuferin sie angepflaumt, weil Lolle
verträumt in die Gegend gesehen hatte, anstatt sofort ihren Wunsch zu nennen, und dann ... nachdem Lolle wie
gefordert geäußert hatte, dass sie gerne ihre Torte abholen wollte, hieß es nur: "Ham wir nicht!" - Das war
fast wie bei ihrer Mutter! Ohne Diskussion: "Ham wir nicht." Aber Lolle hatte dann doch noch eine Torte
bekommen, Schoko-Sahne - und auch mit einer Geburtstagsaufschrift. Allerdings zum sechzigsten.
Wie schmeichelhaft!
Doch Lolle hatte sich davon noch nicht verdrießen lassen. Schließlich war sie noch immer in Berlin, mochte die
Häuser, die Atmosphäre und ... die Menschen.
Vielleicht hatten Rosalie und Sven ja eine Überraschung für sie vorbereitet?!
Als Lolle dann mit der Torte und einer Flasche Sekt nach Hause gekommen war, musste sie jedoch feststellen, dass
weder Rosalie noch Sven an ihren Geburtstag gedacht hatten.
Rosalie hatte sie mit einem Blick auf die Schokosahne nur ausgelacht und gefragt, ob denn Oma Geburtstag hätte.
Außerdem hätte sie heute ja auch gar keine Zeit, denn sie müsste gleich zu einem wichtigen Casting - für eine
Rolle, die ihr so richtig Asche bringen würde.
Und Sven ... der hatte geglaubt, Lolle hätte erst morgen Geburtstag ... und sie solle doch nochmals nachsehen,
ob sie sich nicht vielleicht geirrt hätte, denn heute ... da müsste er nämlich gleich zu einer wichtigen Sitzung.
(...)
Landflucht
"Ich werde nicht weinen ... ich werde nicht weinen."
Lolle ließ sich auf die Umrandung der Verkehrsinsel fallen, die sich mit ihrer welken Bepflanzung vergeblich
darum bemühte, das Berliner Stadtbild zu verschönern. Rechts und links fuhren in dichten Kolonnen die Autos
vorbei, und hinter Lolle lag der Markt. Nicht irgendein Berliner Markt, sondern genau der, auf dem soeben ihr
Herz zerbrochen war. In Tausende von kleinen Stücken, die selbst mit der kompletten Klebstofffabrikation eines
ganzen Jahres nicht mehr zu kitten waren. "Ich werde nicht weinen", schluchzte sie erneut in sich hinein und
drückte ihren Handrücken unter die Stupsnase, die ebenso auszulaufen drohte wie ihre faszinierend großen Augen.
Dabei hatte vor wenigen Wochen alles noch so gut ausgesehen. Und plötzlich, wie aus heiterem Himmel, war ihr
ganzes Leben Schritt für Schritt zu einem einzigen Desaster geworden.
Der letzte Tag an der Schule, Lolles Abiturfeier - wie frei hatte sie sich gefühlt, als der Schulleiter endlich
seine dämliche Rede beendet hatte. Von wegen, die Schulzeit sei die schönste Zeit ihres Lebens gewesen. "Wenn
das so ist", hatte sich Lolle gedacht, "dann bringe ich mich lieber gleich um", und hatte missmutig unter
ihrem kurzen Pony die Stirn gerunzelt. Das konnte doch nur einer behaupten, der sich selbst gerne reden hörte
und von nichts eine Ahnung hatte. Von überhaupt nichts, denn was bitte sollte ihr schon fehlen? Das frühe
Aufstehen? Die tödliche Langeweile? Die Schleimer? Lolle war viel zu kritisch und aufgeweckt, um sich wie manche
ihrer Mitschüler nur anzupassen. Sie hatte ihre eigene Meinung und ihren eigenen Kopf, auf dem fröhlich ein
rotbrauner Pferdeschwanz wippte. Oder die ständige Angst ihres Vaters, ob sie das Abitur auch schaffte? Sollte
ihr die etwa fehlen?
Lolles Vater war ein lieber Kerl, der sich sehr um sie sorgte. In nahezu jeder Hinsicht. "Du solltest mehr Obst
essen, nicht immer nur Schokolade." - Bei der Fülle seiner Ratschläge hatte Lolle manches mal das Gefühl, er
wäre auch eine gute Mutter geworden, während ihre Mutter auch einen perfekten Feldwebel abgegeben hätte. "Keine
Diskussion!", war eine ihrer Lieblingsfloskeln, mit der sie jegliche Argumentation von Seiten Lolles
unterdrückte. Und auch Lolles Vater, ein angesehener Arzt in Malente, der Kleinstadt in der Lolle aufgewachsen
war, kam nur schwer gegen seine Frau an. Trotz seiner beachtlichen Körpergröße wirkte er neben ihr oftmals wie
ein kleiner Junge mit frechen, allerdings bereits ergrauten Locken und gutmütigem, ab und zu recht hilflosem
Blick. Lolle konnte sich nur noch schemenhaft daran erinnern, wann ihre Mutter zuletzt auf ihren Vater gehört
hatte. Das musste wohl so im Jahr 1991 gewesen sein, denn Lolles Mutter schien sehr genau zu wissen, wo es im
Leben lang ging - und erwartete dasselbe auch von ihrer Tochter. "Du bist nicht fleißig genug Lolle, du bist zu
verträumt, du bist dies Lolle, du bist das ..." Lolle hasste die ewigen
Was-willst-du-eigentlich-mit-deinem-Leben-anfangen-Gespräche, die doch nur damit endeten, dass ihre Mutter ihr
sagte, was sie zu tun hatte. Ohne Diskussion! Und ohne auch nur eine Spur darauf einzugehen, welche Ziele Lolle
sich selbst gesetzt hatte.
Comic-Zeichnerin, das war es, was Lolle werden wollte - doch für ihre Mutter war das keine ernstzunehmende
Karriereplanung. Journalistin dagegen, das war ein Beruf, auf den eine Frau stolz sein konnte. So wie ihre
Mutter, die mit ihren halblangen braunen Haaren, ihrer schwarzkantigen Nana-Mouskouri-Brille und ihren ebenso
lässigen wie teuren Klamotten die personifizierte erfolgreiche Intellektuelle zum Besten gab. Deshalb hatte sie
Lolle auch ein Praktikum in ihrer Redaktion vermittelt, denn schließlich konnte Lolle nach Ansicht ihrer Mutter
nach dem Abitur nicht wochenlang nichts tun. In der Redaktion dagegen könne sie sich mal so richtig ausprobieren
und .... bla bla bla ... ihre Zeit sinnvoll nutzen ... bla bla bla ... Es war immer dieselbe Leier. Am liebsten
hätte Lolle ihre Mutter bei derartigen Vorträgen einfach abgeschaltet, so wie es in ihren Comics möglich war.
Auf die Fernbedienung drücken und "freeze", Pause, Standbild - oder am Schluss, wenn ihre Mutter mal wieder
eine ihrer Entscheidungen über Lolles Leben getroffen hatte, sie schnurstracks gegen eine Wand laufen lassen,
damit endlich Ruhe war. Aber das blieb nur ein Wunschtraum. Die einzige, die mit all ihren Einwänden gegen eine
unbezwingbare Mauer knallte, war Lolle - und so war ihr auch nichts anderes übriggeblieben, als das Praktikum in
der Redaktion anzutreten. Widerwillig und wie immer ohne Diskussion.
Malente hatte nicht gerade viel zu bieten, was Stoff für einen mitreißenden, journalistisch wertvollen Artikel
bot. Außer man betrachtete den zwanzigsten Geburtstag der örtlichen Kläranlage als solchen oder konnte sich an
der Entscheidung ergötzen, ob das Foto einer Makramee-Tischlampe oder das der Origami-Schweinchen die
kulturellen Höhepunkte der hiesigen Hobby-Künstler besser repräsentierte. Aber recht viel mehr war es nicht, an
dem sich Lolle gemeinsam mit der Volontärin Tina "... so richtig ausprobieren ..." konnte. Und das war Lolle
nicht genug - auch wenn es nicht der ausschlaggebende Punkt war, warum Lolle Malente Hals über Kopf verlassen
hatte.
Schuld daran, dass sie nun inmitten des hektischen Berlins einsam und verlassen auf einer Verkehrsinsel saß und
vor sich hin schniefte, war Tom. Ihr Tom, mit dem sie seit fast zweidreiviertel Jahren zusammen war. Oder auch
nicht mehr, wie sie seit gestern Abend durch seinen Brief erfahren hatte. Nach der Abiturfeier hatte er ihr noch
ein Armkettchen mit lauter kleinen Herzchen geschenkt - zum tausendsten Tag an dem sie zusammen waren. Dass ein
Mann an so etwas überhaupt dachte, sprach doch schon Bände für ihn. Er hatte sie in den Arm genommen, sie sanft
und zärtlich geküsst und ihr beteuert, wie toll sie sei ... Und kurz darauf war er nach Berlin gefahren. Er
hatte Lolles Geschenk, zwei Last-Minute-Tickets für zwei Wochen auf Kreta, einfach ausgeschlagen und sich dazu
entschlossen, stattdessen ab sofort bei seinem Onkel in Berlin auf dem Markt zu jobben. Ohne vorher mit Lolle
darüber zu reden. Er könnte die Kohle gut brauchen, hatte er ihr im nachhinein erklärt, und sein Onkel würde
ziemlich gut zahlen. Außerdem würde er in Malente keinen Job finden und in Berlin könnte er sich gleich
immatrikulieren, eine Wohnung suchen und den ganzen Kram erledigen. "Ich habe mir das genau überlegt", hatte
er Lolle beschwichtigt. "Du kommst, wenn ich meine Bude habe. In spätestens vier Wochen habe ich was,
versprochen."
Aber nichts da! Alles war anders gekommen, keine seiner Prophezeiungen war eingetreten. Das einzige, was sich
bewahrheitet hatte war, dass es Tom anstatt mit Lolle in den Süden, alleine nach Berlin zog. Und da war er nun
auch - aber nicht mehr alleine, wie Lolle auf dem Markt gerade überdeutlich gesehen hatte. Und damit war auch
die letzte Seifenblase geplatzt.
Wie konnte sie nur so dumm sein?! Als ihr Vater ihr gestern Abend Toms Brief gegeben hatte, hatte sie sich noch
riesig gefreut. So schreibfaul wie Tom war, musste er sie ganz schön vermissen, hatte sie geglaubt. Aber mit
jeder Zeile wurde es ihr klarer: Das war kein Vermissen ... das war verdammtes Schlussmachen! Und während ihr
Vater noch darüber sinnierte, ob es nicht eine gute Idee wäre, wenn Lolle in Berlin bei ihrem Cousin Sven wohnen
würde, hatte sie ohne lange nachzudenken ihre Tasche gepackt. "Hab ich was falsch gemacht? Wir können doch über
alles reden. Lolle? Ich bin doch dein Papa", hatte sie ihn noch sagen gehört, als sie bereits die Tür hinter
sich ins Schloss zog, um den Nachzug nach Berlin zu erreichen. Reden war jetzt angesagt, da hatte ihr Vater
Recht, aber mit Tom!
Gleich nach ihrer Ankunft am Bahnhof Zoologischer Garten hatte Lolle sich mit einem Stadtplan bewaffnet und sich
auf dem Weg zu diesem Marktplatz gemacht, auf dem Tom jetzt arbeiten musste. Und sie hatte ihn auch gefunden -
nicht nur den Markt, sondern auch Tom und eine entscheidende Person mehr. Denn gerade als Lolle all ihren Mut
zusammengenommen hatte, um auf Tom zuzugehen, war eine hübsche junge Frau auf ihn zugestürmt. Wie angewurzelt
war Lolle stehen geblieben, während sie die Szene verfolgte, die sich zwischen den beiden abspielte: Als Tom die
junge Frau entdeckte, stellte er sofort freudig seine Obstkiste ab, riss erwartungsvoll die Arme auseinander, um
diese kurz darauf eng um das dunkelhaarige Wesen zu schlingen, mit dem ihm offensichtlich mehr verband als nur
der gemeinsame Arbeitsplatz. Und dann hatte er sie geküsst. Lange, innig und leidenschaftlich!
von Alexandra Raumer
©Egmont vgs Verlagsgesellschaft